Kurzgeschichten

Suppe

Wie er dasitzt. Graue Strickjacke, Bundfaltenhose, die verbliebene Haarpracht nach links über die Glatze gekämmt. Am Handgelenk die goldene Uhr, ein Erbstück seines Vaters. An den Füßen seine heiß geliebten Filzpantoffeln. Hatte ich irgendwas verpasst? Wann zur Hölle war der pomadentollige Superheld zu einem solchen Spießer mutiert? Wo war die Bluejeans geblieben? Wo die Lederjacke? Der einst bildschöne Schmetterling hat eine umgekehrte Metamorphose vollzogen. Fünfundzwanzig Jahre später ist nichts weiter übrig als eine fette, hässliche Raupe.
»Was gibt es denn heute?«, fragt er und schnüffelt. Sein Kopf hängt über der Terrine, das Doppelkinn bebt.
Ich fülle seinen Teller. »Deine Lieblingspuppe mein Schatz, lass es dir schmecken.«
Er löffelt. Ein Schlürfgeräusch folgt dem Nächsten. Meine Nackenhaare stellen sich auf. Anfangs fand ich es amüsant, ja irgendwie süß. Diese kleinen Eigenheiten, die jeder Partner mit sich bringt. Mittlerweile bohrt sich sein Geschlürfe mit der Wucht einer Schlagbohrmaschine in mein Gehirn.
»Und du isst gar nichts?«, fragt er weiter.
»Ich habe keinen Hunger Schatz.«
Er unterbricht das Schlürfen und senkt den Löffel. »Nicht, dass du dir was eingefangen hast. Du siehst irgendwie blass aus.«
»Ich glaube nicht Schatz. Mir ist einfach nicht wohl.«
Der Löffel wandert wieder nach oben, zieht Kreise wie der Zeigestock eines Oberlehrers. »Dann solltest du erst recht was essen. Meine Mutter pflegte immer zu sagen: ›Ein gut gefüllter Magen, hilft Krankheit zu verjagen‹.«
»Ja natürlich Schatz.« Ich tunke den Löffel in die Suppe und führe ihn an meinen Mund. »Es geht wirklich nicht … mein Magen. Du weißt schon.«
»Ich glaube, du hast recht. Die Suppe schmeckt auch irgendwie anders. Vielleicht werde ich ja auch krank?«
»Vielleicht Schatz.«
»Hast du dich denn strikt an Mutters Rezept gehalten?«
»Natürlich mein Schatz.«

Er schüttel sich, die Fettpolster schwingen nach. Die Hautfalten an seinem Kinn zittern erdbebengleich. »Die Suppe schmeckt aber irgendwie komisch.«
»Das bildest du dir sicher nur ein.«
»Nein wirklich. Sie schmeckt irgendwie … ich weiß nicht. Bitter vielleicht?«
»Bitter?« Ich tunke den Löffel erneut ein und rieche. »Ich finde, sie riecht wie immer. Vielleicht habe ich aus Versehen zu viel Petersilie erwischt.«
Er nickt. »Daran wird es liegen. Nächstes mal bitte genau nach Mutters Rezept. Sie hat diese Suppe im letzten Weltkrieg kreiert, wie du weißt. Unter Bombenhagel, eingekesselt von englischen Soldaten, mit nichts weiter als einer Handvoll Kartoffeln und Kräutern aus dem Garten.«
»Ich weiß mein Schatz.« Deine Mutter hätte Deutschland sicher im Alleingang befreit, wenn sie nicht hätte kochen müssen. Die verdammten Geschichten kommen mir nicht nur aus den Ohren wieder heraus.
»Also isst du jetzt gar nichts? Probiere doch wenigstens, dann schmeckst du gleich den Unterschied. Beim nächsten Mal kannst du sie dann richtig kochen.«
Ich schüttle dem Kopf und fahre Kreise auf meinem Bauch. »Lieber nicht Schatz. Mir ist schon den ganzen Tag so komisch.«
Er schlürft weiter. Ein Löffel und noch einer und noch einer. Sein Blick wandert zum Thermostat. »Du hast auch schon wieder die Heizung hochgedreht nicht wahr?«
»Ich habe die Heizung nicht angerührt Schatz. Mir ist eher kalt.«
»Bist du sicher? Ich habe …« Er stockt, öffnet den obersten Knopf seines Hemdes und fährt sich über die Stirn. Sie glänzt vor Schweißperlen. »Mir ist so schwitzig. Du hast mich sicher angesteckt mit dem, was du hast.«
»Aber ich habe doch gar nichts«, sage ich. »Mir ist nur etwas flau im Magen.«
»Dann solltest du dich einen Moment hinlegen, dann geht es dir sicher gleich besser.«
Ich lächle. »Später vielleicht.«

Sein Teller ist leer, er leckt sich die Lippen. Der Löffel zittert in seiner Hand. Er legt ihn zur Seite und stemmt sich hoch. Auf dem Weg zum Fernsehsessel schwankt er wie ein Matrose beim Landgang. Sein Arm rudert, sucht nach der Tischkante. »Was ist nur los … das ist …«
Zwei weitere Schritte folgen. Im nächsten Moment durchbricht der dumpfe Knall eines aufgequollenen Fleischberges die Stille. Ein kalbender Eisberg hätte weit weniger Lärm verursacht. Dann liegt er da, wenig aufrecht, wenig selbstgefällig. Die fette Raupe zappelt, windet sich und schnappt nach Luft. Speichel tropft aus seinem Mundwinkel.
Stille.
Ich stehe auf und räume den Tisch ab. Die Raupe liegt ausgestreckt auf dem Fußboden. Ich lege ein Handtuch unter den Mund, damit das Gesabber das Parkett nicht versaut. Die Suppe wandert in den Ausguss, der Rest aus dem kleinen Fläschchen gleich mit. Im Schrank steht eine Flasche Rotwein. Ich schenke mir ein Glas ein, steige über den leblosen Klumpen Fleisch und setze mich in seinen Sessel. Im Fernsehen läuft ein Ratequiz.
»Ein giftiges Kristall mit dem Geruch nach bitteren Mandeln«, sagt der Showmaster.
»Was ist Kaliumcyanid?«, antworte ich.
Ich liebe Jeopardy.

© Mai/2023 Sophie Brandt

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