Sophies Welt

Kryptonit!

»Ich habe ein Kryptonit!«
Nein zwei. Ich habe zwei Kryptonite. Sagt man das so? Gibt es überhaupt eine Mehrzahl von Kryptonit?

Ersteres ist auch viel mehr eine Sucht. Oh ja, ich bekenne mich schuldig. Ich bin ein Junkie. Ich kann nicht leben ohne den Stoff, aus dem die Träume sind. Ohne die totale Dröhnung, die ich mir tagtäglich einverleibe. Ohne die hundert Seiten eines guten Buches, das mich in fremde Welten entführt. Ja, ich bin buchsüchtig. Meine zwei neuen Bücherregale, die ich erst vor gut sechs Wochen angeschraubt habe, wurden letztes Wochenende um ein Drittes erweitert. Und selbst dieses platzt schon jetzt aus allen Nähten. Die Frage, ob ich sie denn alle gelesen hätte, muss ich ganz klar verneinen. Kommt aber noch, sofern ich irgendwann mit dem Lesen hinterherkomme. Gestern Abend habe ich mir das letzte Buch bestellt, vorgestern das Vorletzte und heute habe ich dem Secondhandladen in unserem Ort einen Besuch abgestattet und drei Weitere erstanden. Dreiundsechzig Cent pro Stück. Da kann man (oder auch Frau – ein Hoch auf die Gendergerechtigkeit) nicht meckern, gemessen an den schönen Stunden, die mir ein gutes Buch schenkt.

Zweiteres und dabei kann man in der Tat von einer Art Kryptonit sprechen. Ich habe eine Abneigung gegen Krankheiten. Bakterien und Viren sind nicht gerade meine Freunde. Deshalb habe ich stets Handdesinfektionsmittel bei mir und hasse es, öffentliche Toiletten zu benutzen. Obwohl, und das finde ich wirklich erstaunlich, die Klobrille auf einer öffentlichen Toilette mit die sauberste Oberfläche im ganzen Raum ist, wohingegen man nach Berührung des Wasserhahnes oder der Türklinke, seine Hände lieber zwei Mal desinfizieren sollte. In Ausnahmefällen trifft dies natürlich nicht zu, und zwar genau dann, wenn eine Dame der Schöpfung offensichtlich versucht hat im Stehen zu pinkeln um dem Kontakt mit eben erwähnter Klobrille zu vermeiden. Nur muss man sich stattdessen quer über die Brille, den Fußboden und die Seitenwände rechts und links daneben erleichtern?

Leute, die mich kennen, wissen also, dass ich eine kleine buchsüchtige Hygieneneurotikerin bin, was aber nicht weiter schlimm ist, denn ich habe keinen Tick und leide auch nicht unter einer Zwangsstörung. Abgesehen davon habe ich neulich herausgefunden, dass ich gar nicht so verrückt bin. Da kommt mir doch in der Stadt ein hustender, triefender und schniefender junger Herr auf der Treppe entgegen. Bei so etwas setzt ohne Verzögerung mein Lebenserhaltungstrieb ein. Das bedeutet, ich fahre meine Atmung auf ein Minimum herunter, stelle also die Atmung komplett ein, und atme erst wieder, wenn ich der Gefahrenzone entkommen bin. Superpeinlich denkt man und bildet sich ein, die einzige Bekloppte zu sein, bis die Person, mit der man unterwegs ist, einen plötzlich fragt: »Hältst du etwa auch die Luft an?«

Nicht krank zu werden ist halt immer noch besser als doch krank zu werden. Denn wer hat schon Lust auf Grippe, Keuchhusten, Ebola oder sonstige Quälereien. So saßen meine beste Freundin Klarabella und ich neulich bei Mc Donalds (nein, ich habe seit Oktober kein Fleisch mehr gegessen und das bleibt vorerst auch so) und aßen zu Abend. Sie ein Menü mit Burger und allem, ich eine Pommes. Natürlich benutze ich zum Essen eine der vom goldenen M bereitgestellten hölzernen Pommesgabeln und erntete ohne Umwege einen misstrauischen Blick ihrerseits. Es war nicht das erste Mal, dass ich von ihr freundlich darauf hingewiesen wurde, dass ich einen Hygienetick habe.
Sie so: »Wat benutztn du ne Gabel.«
Ich so: »Hygiene!«
Sie so: »Du hast ’n Schaden Pommes isst man mitte Finger!«
Ich so: »Klar, aber wer weiß, was ich vorher alles angefasst hab?!«

Lange Rede, kurzer Sinn. Eines der im Secondhandladen erstandenen Bücher, das Buch Wachstumsschmerz von Sarah Kuttner, stach mir direkt ins Auge. Dreiundsechzig Cent, da kann man nicht viel falsch machen, dachte ich und gönnte es mir. Immerhin habe ich den Film Mängelexemplar gesehen und für ganz annehmbar befunden (dessen Buchvorlage auch aus ihrer Feder stammt) und habe sowohl Feuchtgebiete als auch Schoßgebete gelesen, welche zwar nicht von Sarah Kuttner geschrieben wurden, sondern von Charlotte Roche, aber Frau Roche und Frau Kuttner konnte ich noch nie so wirklich auseinanderhalten. Ähnlich ging es mir immer mit Nils Bokelberg und seinem Doppelgänger? Wie hieß der noch gleich? Achja, Mola Adebisi!
Ich nehme Wachstumsschmerz also mit und beginne zu lesen. Die ersten zehn Seiten versprechen einen gewissen Spaßfaktor. Vielleicht bleibt das so, denke ich mir und blättere weiter. Zwischen Kapitel eins und Kapitel zwei finde ich dann ein Lesezeichen. Eigentlich nichts Ungewöhnliches. In gebrauchten Bücher stößt man hin und wieder auf vergessene Lesezeichen. Kleine, große, lange, dünne, selbst gebastelte, gekaufte, hübsch gestaltete oder die klassischen, von den Verlagen mit Eigenwerbung bedruckten Pappstreifen. Wobei ich zum Beispiel das Lesezeichen im Buch Blutschule nie verstanden habe, denn auf ihm war Werbung für das Buch Blutschule abgedruckt. Glauben die ich kaufe das zwei Mal? Am liebsten sind mir Bänder. Die verliert man nicht, sie gehören einfach dazu. Leider gibt es die heute kaum noch. Bis auf meine zwei Bücher ›Über das Schreiben‹ und ›Krimis schreiben‹ hat eigentlich keines ein eingearbeitetes Band als Lesezeichen und die stammen, wie mir soeben auffällt, sogar aus demselben Verlag.
Bevor ich jetzt wieder abschweife, ich finde also dieses Lesezeichen und es handelt sich dabei um ein Stück Papier. Zellstoffpapier! Meine schlimmsten Befürchtungen, es könne sich dabei um ein Taschentuch handeln und ich hätte womöglich in diesem Moment die Büchse der Pandora geöffnet und mich für dreiundsechzig Cent mit sämtlichen der Menschheit bekannten Krankheiten infiziert, stellte sich als unbegründet heraus. Bei genauerer Betrachtung handelte sich nicht um ein Taschentuch, sondern um ein Stück, und ich wage es kaum auszusprechen, Toilettenpapier! Schreck lass nach, aber keine Sorge, denn es war weiß, unbenutzt und ohne etwaige braune oder gelbliche Rückstände. Ich nehme also das Buch und reinige es vorsorglich mit Desinfektionsmittel, denn na ja, wir wissen ja alle, das Bücher auf Toiletten gelesen werden, aber vorstellen möchte man sich dann doch nicht, dass eine fremde Person bei ihren kleinen und großen Geschäftlichkeiten eben jenes Buch in der Hand hatte. Zumindest steht das Buch jetzt bei mir im Regal. Ich denke, wenn ich eine bestimmte Zeit abwarte, so zwei Wochen bis drei Jahre, dann sollten sämtliche Bakterien verhungert sein und ich kann es in aller Ruhe lesen. Immerhin sieht das Buch aus wie neu und ich bin jetzt auch nicht ganz so paranoid und würde es deswegen entsorgen. Vielleicht kann man das Ganze auch einfach als eine Art Schocktherapie sehen, um mich von meinem Hygienewahnsinn zu befreien. Und vielleicht liebe Klarabella, esse ich die Pommes beim nächsten Mal wieder mit den Fingern.

 

© Februar/2019 Sophie Brandt

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