Autorentipps

Griff in die Tippkiste…

Ein Gastbeitrag von Karin Lassen

Griff in die Tippkiste – Die Leiter der Abstraktion

Schon einmal gehört? Bei der Leiter der Abstraktion handelt es sich um ein Denk- und Schreibmodell, das Samuel Ichiye Hayakawa entwickelt und 1939 in seinem Buch „Sprache in Denken und Handeln“ beschrieben hatte. Seither wurde es unzählige Male überarbeitet und in unterschiedlichsten Zusammenhängen verwendet.

Begriffe und Interpretationen

Visualisiert man unsere facettenreiche Sprache in Gestalt einer Leiter, so stellen die unteren Sprossen konkrete und sinnlich fassbare Begriffe dar, z.B. Tränen, weinen, lachen. Je höher man auf dieser Leiter steigt, desto abstrakter werden die Worte. Dort sprechen wir dann z.B. von Trauer, emotionaler Erregung oder Freude. Hemd und Hose werden zu Textilien und eine Prügelei zu einem handgreiflichen emotionalen Konflikt. Während sich auf den unteren Sprossen unserer Leiter also handfeste, greifbare Begriffe tummeln, lassen die oberen Sprossen Spielraum zur Interpretation, erzeugen Bilder im Kopf.

Spiel mit der Wahrnehmung

Dieses Modell wird u.a. gerne im Coaching verwendet, um einen nebulös geschilderten Gemütszustand auf den Kern des Problems zu bringen (die Leiter hinabsteigen) oder aber umgekehrt, wenn man sich in Details verliert, quasi den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sieht, um nach übergeordneten Bedeutungen und Zusammenhängen zu schauen (die Leiter hinaufsteigen).

Die zahlreichen Aspekte unserer Sprache geschickt einzusetzen, hilft also nicht nur Autoren. Aber denen natürlich in besonderer Weise. Denn Sie können dank dieses kleinen aber feinen Hilfsmittels Dialoge und Beschreibungen von bodenständig bis nach den Wolken greifend formulieren und Ihre Leiter – je nach Bedarf – in schwindelerregende Höhen erklimmen und wieder hinabklettern. Mal zeigen Sie dem Leser die harte Realität, mal laden Sie ihn ein zum Spiel mit seiner eigenen Wahrnehmung. Und das in wahrlich mannigfaltiger Weise, denn geschrieben wird schließlich mit unterschiedlichsten Zielsetzungen.

Die Leiter der Abstraktion als Marketinginstrument

Schauen Sie sich beispielsweise die Philosophie eines Unternehmens an. In professionell gestalteten Broschüren oder Internetseiten finden Sie Beschreibungen, wie „Unsere Beschäftigten zeichnen sich durch ihre Bereitschaft aus, sich optimistisch und mit vollem Einsatz für das Unternehmen zu engagieren, neue Herausforderungen dynamisch anzugehen und Ziele pragmatisch zu realisieren.“ Wir befinden uns gerade ganz oben auf unserer Leiter.

Der Gewerkschaftsvertreter beschreibt das (am unteren Ende der Leiter) vielleicht eher in dieser Weise: „Unsere Belegschaft arbeitet 40 Stunden pro Woche, wenn erforderlich auch darüber hinaus. Man erwartet von den Mitarbeitern, dass sie sich von Krisen, wie beispielsweise geplanten Standortverlagerungen, nicht erschüttern lassen. Man setzt auf ihr Vertrauen in die Zukunft und die Entscheidungen der Geschäftsleitung. Dazu gehört die Bereitschaft auch neue oder zusätzliche Aufgaben zu übernehmen, sie müssen mit Stress umgehen können, ihre Arbeit in stets bester Qualität erledigen und die ihnen vorgegebenen Ziele erreichen.“

Und der voller Tatendrang steckende Bewerber, der sich auf der Suche nach einer neuen Stelle die Firmenseite anschaut? In seinem Kopf zeichnet sich nach Lektüre der Firmenphilosophie vermutlich dieses Bild: „Prima, eine Firma, bei der ich mich einbringen und weiter entwickeln kann, wo immer neue und spannende Herausforderungen auf mich warten, mit Kollegen, die sich mit ihrer Arbeit identifizieren, die anpacken und gestalten wollen.“

Die Leiter der Abstraktion im Storytelling

Im Storytelling, einer Erzählmethode, die gleichfalls im Marketing, aber auch im Wissensmanagement genutzt wird, kommt unsere Leiter der Abstraktion ebenso zum Einsatz. Hier wird mittels Metaphern und Vergleichen bestimmtes Know How in einer Form vermittelt, die den Zuhörer ins Geschehen einbindet, ihm komplexe Sachverhalte begreiflich macht und ihn dabei zum eigenständigen Denken inspiriert.
Auf der unteren Sprosse unserer Leiter befinden sich in diesem Falle jede Menge Zahlen, Daten und Fakten. Metaphern, die zum besseren Verständnis dieser Tatsachen beitragen, führen die Leiter hinauf bis ganz nach oben, wo beispielsweise als Ziel eine Vision wartet.

Die Leiter der Abstraktion im Roman

Könner bewegen sich hier gerne flott auf und ab und wieder nach oben. Um möglichst viele Leser auf die Reise durch ihre Geschichte mitzunehmen, steigen sie sinnlich und verständlich ins Geschehen ein, klettern mit geschickt eingesetzten Szenen, Dialogen, Beschreibungen sprossenweise empor, streuen die eine oder andere Anekdote und Metapher ein und erlauben dem Leser dadurch, sich ein eigenes Bild vom Geschehen zu machen. Schwelgt er dann in seiner Bilderwelt, schicken sie ihn mit harten Fakten oder überraschenden Wendungen die Leiter wieder nach unten und begleiten ihn beim nächsten Aufstieg erneut zum Spiel mit weiteren Assoziationen.

Alles, was man greifen kann, was konkret ist, liegt auf der unteren Sprosse der Leiter. Alles, was man deuten kann, befindet sich ganz oben. Schön, wenn man diese Kunst des Wechsels beherrscht.

Übung macht den Meister

Klingt alles abstrakt? Dann machen wir es doch einfach greifbar. Mit etwas Übung wandeln auch Sie die Leiter der Abstraktion gekonnt auf und ab. Zum Einstieg ein paar Anregungen.

  1. Überlegen Sie sich einen übergeordneten Begriff (oben auf der Leiter) und ordnen Sie ihm möglichst fassbare Worte / Erklärungen (unten auf der Leiter) zu.
    Zum Beispiel „Soziale Kompetenz“ beinhaltet:
    – andere motivieren können
    – Einfühlungsvermögen
    – Konfliktfähigkeit
    – Kritikfähigkeit
    – Teamfähigkeit
  2. Überlegen Sie sich Situationen, die ihren übergeordneten Begriff (wird sind oben auf der Leiter) veranschaulichen. Wie sieht z.B. „eine romantische Abendstimmung“ aus oder „ein gelungenes Fest“ oder „ein liebenswert-skurriler Typ“ oder „die Beschaulichkeit ihrer kleinen Welt“?
  3. Und nun starten Sie zur Abwechslung mit der unteren Sprosse. Sammeln Sie Begriffe aus der Gefühlswelt, wie z.B. Tränen, hochgezogene Mundwinkel, zitternde Hände, weit aufgerissene Augen, keuchendes Atmen und suchen Sie nach den passenden übergeordneten Begriffen, wie Trauer, Heiterkeit, Angst (obere Leitersprosse).
  4. Und als i-Tüpfelchen steigen Sie nun mit einer Anekdote, Metapher, Szene die Leiter von unten nach oben, indem Sie sich eine bildhafte Beschreibung ausdenken, die diesen übergeordneten Begriff NICHT enthält. Er entsteht im Kopf des Lesers ganz alleine.

Viel Vergnügen!

Die Leiter der Abstraktion wird in einem weiteren Beitrag zu „show don’t tell“ noch etwas vertieft. Einfach mal wieder vorbeischauen.

Kleiner Tipp für Patchwork-Nutzer: der mitlaufende Thesaurus hilft bei der Suche nach Begriffen und Beschreibungen. Schon probiert?

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

error: Alle Texte sind Eigentum von SophieBrandt.de. Kopieren oder Verbreiten verboten!!!